Wohnen als Dienstleistung
Wohnen als Dienstleistung
Der Originaltext ist erschienen in der Zeitschrift der BBA - Akademie der Immobilienwirtschaft, Heft 11 von September 2014.
Die BBA-Tagung „Wohnen als Dienstleistung: Vom Basisprodukt WOHNUNG zum wohnService“ am 9. September 2014 informiert über wohnbegleitende Dienstleistungen. Einer der Dozenten ist Dr. Alain Benz, Leiter Unternehmensentwicklung bei bonacasa AG in Solothurn. Im Gespräch thematisiert er aktuelle Trends in der Branche, neue Ansprüche der Mieterinnen und Mieter und das Service-Konzept der bonacasa AG.
Sie waren am Institut für Wirtschaftsinformatik der Universität St. Gallen als wissenschaftlicher Mitarbeiter tätig, der Titel Ihrer Doktorarbeit lautet „Geschäftsmodelle für das Service-Wohnen“. Was können Sie aus der Wissenschaft heraus in die Praxis mitnehmen?
Alain Benz: Der Anspruch der Universität St. Gallen ist es, Wissenschaft und Praxis nicht als Gegensätze zu verstehen, sondern mittels praxisorientierter Forschung zu verbinden. Dafür werden Problemstellungen der betrieblichen Wirklichkeit erfasst und Lösungen gefunden, die den Unternehmen und ihren Mitarbeitern nützlich sind. Diese Haltung gilt ganz besonders auch für das Institut für Wirtschaftsinformatik, an dem ich von 2009 bis 2013 das Independent Living Netzwerk betreuen durfte, ein Zusammenschluss von über 30 Organisationen und Unternehmen, die sich für das Thema Wohnen und Leben mit Services und die dafür notwendigen Geschäftsmodelle interessieren. In der Interaktion mit diesen Organisationen und Unternehmen ist meine Dissertation entstanden. Sie liefert eine Art Baukasten zur Gestaltung von Geschäftsmodellen für das Wohnen mit Dienstleistungen.
In meiner jetzigen Tätigkeit als Leiter Strategie bei der bonacasa AG — einem Anbieter von Service-Wohnen für Privatkunden, der auch Servicelösungen für Geschäftskunden umsetzt — greife ich oft auf die Ergebnisse meiner Dissertation zurück. Sie hilft mir, die Kundensegmente, das Dienstleistungsportfolio, die Kundenkanäle, die Erlösmodelle, die Partnernetzwerke usw. zu konfigurieren und die nötigen Ressourcen abzuleiten, damit überlegene Geschäftsmodelle für Angebote von Service-Wohnen entstehen.
Welche Wünsche haben die Mieterinnen und Mieter sowie Käuferinnen und Käufer im Jahr 2020?
Ich möchte diese Frage gerne auf zwei Ebenen, bezogen auf die Wünsche, die Mieter und Käufer an den Wohnraum haben und die Wünsche, die mit den Veränderungen der Wirtschaft des 21. Jahrhunderts einhergehen, beantworten.
Als generelle Entwicklung stellen wir auf der Ebene Wohnraum fest, dass vermehrt Wohnungen mit zwei bis vier Zimmern gefragt sind, während Wohnungen mit mehr als fünf Zimmern — etwa für die klassische Grossfamilie—abnehmen. Dies verwundert kaum, da die Familienstrukturen kleiner werden und die Singularisierung stetig zunimmt. Trotz sinkender Zimmeranzahl steigt die Erwartung an die Grösse der Wohnung in Quadratmetern. Gefragt sind heute großzügige Grundrisse, so dass die Quadratmeteranzahl ein wichtiges Entscheidungskriterium geworden ist. Zudem stellen wir fest, dass die Lage der Immobilie eine entscheidende Rolle spielt. Wir legen deshalb bei der Auswahl von Grundstücken grossen Wert auf gute Erreichbarkeit per Auto und mit öffentlichen Verkehrsmitteln sowie auf eine gute Anbindung an die lokale Infrastruktur. Da wir insbesondere ältere Menschen adressieren, steht die Schwellenfreiheit des Wohnraums im Fokus unseres Handelns. Wenn wir bauen, bauen wir schwellenfrei — den demographischen Veränderungen geschuldet — und unter Berücksichtigung vieler weiterer baulicher Massnahmen, die das Leben unserer Käufer und Mieter komfortabler machen. Außerdem sind wir bemüht, den steigenden Lifestyle-Ambitionen Rechnung zu tragen, indem wir modernen, freundlichen Wohnraum realisieren, der einen über dem Marktdurchschnitt liegenden Ausbaustandard aufweist.
Die zweite Ebene betrifft die Entwicklungen der gesamten Wirtschaft hin zu mehr Konsumentenorientierung. In den zurückliegenden Jahrzehnten war die Wirtschaftsinformatik bemüht, den Austausch von Unternehmen effizient zu gestalten, die sich bis dato auf ihre Kernkompetenzen fokussiert haben. Dies hatte zur Folge, dass lange Zeit Konsumenten keine andere Möglichkeit hatten, als die von ihnen benötigten Produkte und Dienstleistungen in einem sehr fragmentierten Anbietermarkt selbst zu beziehen und zu jedem der Anbieter eine eigene Geschäftsbeziehung zu unterhalten. Unternehmen des Informationszeitalters wie Apple, Google, Facebook, Amazon und viele andere zeigen, wie erfolgreich ein Akteur sein kann, wenn er sich an den Konsumentenbedürfnissen ausrichtet und gebündelte Leistungen — individuell auf den Kundenprozess des Konsumenten ausgerichtet — anbietet. Derzeit findet ein Paradigmenwechsel zur Konsumentenorientierung statt. Der Konsument steht im Zentrum, die Unternehmen vernetzen sich im Hintergrund zu einem konsumentenorientierten Ecosystem.
Die Wohnungsmieter und -käufer, die als Konsumenten von diesen Entwicklungen geprägt sind, werden die Ansprüche auch an uns Wohnungsunternehmen herantragen. Ihre Ansprüche steigen, so dass sie nicht mehr nur überdurchschnittlichen Wohnraum, sondern darüber hinausgehende Produkte und Services wie „aus einer Hand“ vom Vermieter erwarten.

Inwieweit sind Dienstleistungen für die Wohnungswirtschaft einzigartig? Wie sieht hierbei die Rolle der Wohnungsunter nehmen aus?
Wohnungsunternehmen haben einen sehr grossen Vorteil: Die Nähe zu ihren Mieterinnen und Mietern. Sie können in der konsumentenorientierten Wirtschaft deshalb eine zentrale Rolle einnehmen, wenn es um die angesprochenen Lösungen „aus einer Hand“ geht. Wenn sich Vermieter als lntermediäre positionieren, die ihren Mieterinnen und Mietern zusätzlich zum Wohnraum ergänzende Produkte und Dienstleistungen zugänglich machen, können sie sich prominent in der Lebenswelt positionieren. Die heutige lT bietet nicht nur komfortable, zeitgemässe Bestellmöglichkeiten über Smartphone oder Tablet-PC, sondern auch die für eine effiziente Abwicklung erforderlichen Systeme für die Anbieter.
Als Intermediäre werden Unternehmen der Wohnungswirtschaft so zu Anbietern von Service-Wohnen — je nach Ausprägung des Geschäftsmodells — für ältere Mieter, die einen Unterstützungsbedarf haben oder auch für jüngere Menschen, die an Lifestyle und Komfort interessiert sind. Voraussetzung ist, dass die Wohnungsunternehmen Living Services selbst erbringen oder auf ein Netzwerk externer Dienstleister zurückgreifen.
Wohnungsunternehmen haben einen sehr grossen Vorteil: Die Nähe zu ihren Mieterinnen und Mietern.

Der demographische Wandel, steigende Ansprüche, verschiedene Lebensstile und Haushaltsstrukturen führen zu einer stetigen Auseinandersetzung mit den Rahmenbedingungen des Wohnens. Wie schaffen Sie es, den Anforderungen gerecht zu werden?
Wir haben das Glück, dass der Gründer und Verwaltungsratspräsident der bonainvest Holding AG zu der auch die bonacasa AG gehört, lvo Bracher, die Änderungen der Rahmenbedingungen früh antizipiert und neue Lösungen entwickelt hat. So basiert unser bonacasa-Konzept heute auf drei Standards: einem Bau-, Sicherheits- und Dienstleistungsstandard. Der bonacasa-Baustandard (ein über 200 Punkte umfassender Detailkatalog) definiert die bauliche Ausgestaltung der Liegenschaften, damit diese auch den besonderen Anforderungen älterer Menschen genügen. Der bonacasa Sicherheitsstandard schreibt u.a. einen elektronischen Schlüsseltresor in jeder Liegenschaft vor, damit bei Notfällen schnell und sicher interveniert werden kann. Zudem bietet bonacasa an eine Anbindung - an eine 24/7-Notrufzentrale an. Der bonacasa-Dienstleistungsstandard steht für eine Service-Organisation, die unterschiedliche Komfortdienstleistungen (Conciergeservice, Wohnungsreinigung, Wäscheservice, Mahlzeitendienst, Begleitdienst, Ferienservice, Mobilitätsdienstleistungen etc.) erbringt oder an ein Netzwerk von Spezialisten vermittelt.
Organisational sind die Bereiche Bauen (bonainvest Holding AG) und die konsumentenorientierte Servicesicht (bonacasa AG) getrennt. Bei der bonacasa AG entwickeln und erbringen wir Dienstleistungen für Endkunden, greifen die Entwicklungen zur serviceorientierten Wirtschaft auf und entwickeln Servicelösungen für Geschäftskunden So setzen wir beispielsweise klassisches Service Wohnen auch für die Mieterinnen und Mieter anderer Liegenschaftsverwaltungen um oder realisieren in Tourismusregionen „Ferien mit Dienstleistungen“. Die bonainvest Holding AG bzw. die bonacasa AG ist heute nicht nur ein Spezialist für das Bauen, sondern auch für das Service-Wohnen für eigene Mieterinnen und Mieter und für Geschäftskunden diverser Branchen.

Einige Wohnungsunternehmen haben das Problem, dass Dienstleistungen, die separat bezahlt werden müssen, nicht in Anspruch genommen werden, obwohl der Bedarf besteht. Was würden Sie hier raten?
Diese Herausforderung haben wir auch in der Schweiz, obwohl die Rahmenbedingungen aufgrund der relativ hohen Kaufkraft vermeintlich attraktiv sind. Vielfach ist der Bezug von Dienstleistungen noch mit Vorbehalten verbunden. Es entspricht der Schweizer Mentalität, möglichst vieles selber zu tun. Nicht wenige Mieterinnen und Mieter haben schon bei der Zuhilfenahme einer Reinigungskraft Vorbehalte. Sie finden es vielleicht dekadent oder wollen sich Dienstleistungen nicht leisten, da sie das Ergebnis nicht abschätzen können. Diese kritische, ablehnende Grundhaltung wird sehr schnell erodieren und sich zugunsten einer serviceorientierten Haltung in den nächsten Jahren fundamental ändern. Davon ist nicht nur die Universität St. Gallen, sondern auch das renommierte Gottlieb Duttweiler Institut überzeugt, das die Entwicklung hin zur serviceorientierten Gesellschaft respektive zur „Gesellschaft des langen Lebens“, in der Dienstleistungen unumgänglicher Bestandteil des Lebens werden, in einer gleichnamigen Studie detailliert erläutert. Mit dieser Hypothese sind die beiden Akteure nicht alleine: Global wird die zunehmende Servicebereitschaft thematisiert und insbesondere „Wohnen mit Services“ gilt derzeit als Megatrend und als Wachstumsmotor der Immobilienbranche.
Selbstkritisch müssen sich allerdings Immobilienunternehmen an die eigene Nase fassen, wenn es um die Frage geht, warum die Nachfrage noch gering ist. Wir haben das Thema meist lange Zeit bei Mieterinnen und Mietern unglücklich positioniert. Angebote, die einen Unterstützungsbedarf in den Vordergrund rücken, sind in der Regel zum Scheitern verurteilt. Auch wir bei der bonacasa haben lange Zeit das Thema zu unattraktiv positioniert. Wir verfolgen heute einen komplett anderen Marketingansatz. Wir haben das Service-Wohnen zu einem Lifestyle-Angebot aufgewertet. Dafür haben wir unsere Marketingunterlagen überarbeitet und ein eigenes Lifestyle-Magazin mit einer Auflage von 20'000 Exemplaren lanciert. Ein weiterer Schritt war, vormals integrale Bestandteile wie Grundpauschalen für Services — die einen Charakter des Zwangs innehatten — zugunsten einer Wahlfreiheit zu lockern.
Unsere Dienstleistungsangebote sind heute freiwillig, lifestyle-ambitioniert und zu kompetitiven Preisen erhältlich. So konnten wir den Dienstleistungsumsatz letztes Jahr um ein x-faches steigern und sind zuversichtlich, auch dieses Jahr ein schönes Wachstum zu verbuchen.