Nachhaltigkeit erobert die Welt
Nachhaltigkeit erobert die Welt
Der Begriff Nachhaltigkeit ist kein Modegag der letzten Jahre. Er ist gut 300 Jahre alt und hat sich nun weltweit etabliert. Verstanden wird «Nachhaltigkeit» aber sehr unterschiedlich.
Von Hans Fischer, Geschäftsführer bonacasa
Es war die Sorge um die Ressource Holz, für den Betrieb der Silberminen, die den sächsischen Adligen und Oberberghauptmann, Hans Carl von Carlowitz, 1713 den Begriff Nachhaltigkeit ersinnen liess. Er wusste um den wachsenden Holz-Notstand im Erzgebirge und um das umfassende Problem in vielen europäischen Ländern. Hans Carl von Carlowitz meinte damit einen Forstbetrieb, dessen Ernteertrag dem nachwachsenden Rohstoff entspricht. Über Carlowitz’ Werk «Sylvicultura oeconomica» etablierte sich «Nachhaltigkeit» in der deutschen Forstszene, dann in den Lexika, es folgten Organisationen wie die UNO, die den Begriff aufnahmen, und schliesslich landete er im Sprachgebrauch der breiten Masse. So twitterte ein Begeisterter: «Kann es immer noch nicht glauben, dass wir Deutschen die WM gewonnen haben. Das hat unser aller Leben nachhaltig verändert!» Im Zusammenhang mit diesem Tweet steht «nachhaltig» für «lang anhaltend». Das ist heute eine der drei meist genannten Bedeutungen. Die zweite betrifft das von Carlowitz definierte Forstprinzip des Gleichgewichts von geschlagenem und nachwachsendem Holz. Die dritte Definition stützt sich auf die Weltkommission für Umwelt und Entwicklung («Brundtland-Kommission») von 1987 und lautet: «Nachhaltig ist eine Entwicklung, die den Bedürfnissen der heutigen Generation entspricht, ohne die Möglichkeiten künftiger Generationen zu gefährden, ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen und ihren Lebensstil zu wählen.» Kurz: Es geht um die Vernetzung aller Lebensbereiche im Sinne eines harmonisierten Ressourcenumgangs.
Und dieser allumfassende, vernetzte Gedanke ist natürlich ein wunderbarer Nährboden für Marketingmenschen. Coop schreibt dazu: «Die Nachhaltigkeitsanstrengungen von Coop konzentrieren sich auf die Felder, die einerseits von einer hohen gesellschaftlichen Erwartungshaltung geprägt und andererseits aus internen Überlegungen hinsichtlich Kosten, Versorgungssicherheit oder Differenzierung am Markt von grosser Bedeutung sind.» Migros formuliert wie folgt: «Mensch und Umwelt stehen bei der Migros im Mittelpunkt. Denn die Grundsätze und Werte des Unternehmens sind geprägt von ökonomischer, sozialer und ökologischer Verantwortung.» Die ABB binden den Personalgedanken mit ein: «Sustainable Development oder nachhaltige Entwicklung bedeutet, vereinfacht gesagt, wirtschaftliche Effizienz, Umweltschutz sowie soziale Sicherheit langfristig und verantwortungsvoll zu verknüpfen, um die Lebensgrundlage zukünftiger Generationen zu sichern.» Dann wollen junge Bands nachhaltige Musik machen oder Start-ups mit neu entwickelten Maschinen Schweiss aus T-Shirts von Party-People in geruchsfreies Wasser umwandeln. Apropos Party: Laut «Zeit.de» hat im niederländischen Rotterdam der erste Club eröffnet, der durch Tanzen Energie erzeuge. Die Etablierung von Nachhaltigkeit ist folglich Produktentwicklungs-, Werbe- und Innovationstreiber.

Doch wie lässt sich der Erfolg von Nachhaltigkeitsbemühungen messen? Ein wichtiger Faktor ist der sogenannteökologische Fussabdruck. Er beschreibt, wie viele Hektaren Land ein einzelner Mensch für die Befriedigung seiner Lebensgewohnheiten unter den aktuellen Produktionsbedingungen benötigt. Laut Wikipedia sind Flächen eingerechnet, die zur Produktion von Kleidung und Nahrung, zur Bereitstellung von Energie, zur Entsorgung von Müll oder zum Binden des durch menschliche Aktivitäten freigesetzten Kohlenstoffdioxids benötigt werden. Der Durchschnittserdenbürger braucht 2,7 Hektaren. Auf die Gesamtbevölkerung hochgerechnet, werden die maximalen Ressourcen der Erde um 50 Prozent überschritten – Tendenz steigend. Wie schwierig es aber ist, den ökologischen Fussabdruck in Richtung Nachhaltigkeit zu senken, zeigt das Experiment der Autorin Sarah Schill. Spiegel Online schreibt im Artikel «Selbstversuch: Vegan, plastikfrei, nachhaltig», dass sie ihren Fussabdruck trotz regionaler und saisonaler Ernährung, strikter ÖV-Nutzung, Weglassen von Smartphones und viel vorbildlichem Verhalten mehr den Fussabdruck von vorher knapp 3 nur auf 2 senken konnte. Und das, obwohl sie angibt, vor dem Versuch einen hohen Ressourcenverbraucht gelebt zu haben. Fährt man Auto und isst man importierte Nahrungsmittel, wird man einen sehr viel höheren ökologischen Fussabdruck erhalten. Interessierte finden Online-Fussabdruck- Rechner zum Beispiel auf der Website von WWF Schweiz.
Dass ein derzeit weltweiter Ressourcenabbau und Emissionsausstoss von 150 Prozent der theoretischen Maximalkapazität auf Dauer nicht tolerierbar sein wird und politische Rahmendbedingungen die Nachhaltigkeitsbemühungen von Privatpersonen und Unternehmen unterstützen müssen, liegt auf der Hand. Die UNO ist mit der Division for Sustainable Development an vorderster Nachhaltigkeitsfront mit dabei, und das Bundesamt für Raumentwicklung hält fest, dass nachhaltige Entwicklung für Bund und Kantone keine freiwillige Aufgabe sei. Artikel 2 der Bundesverfassung erkläre die nachhaltige Entwicklung zu einem Staatsziel, und Artikel 73 fordere Bund und Kantone dazu auf, «ein auf Dauer ausgewogenes Verhältnis zwischen der Natur und ihrer Erneuerungsfähigkeit einerseits und ihrer Beanspruchung durch den Menschen anderseits» anzustreben. Der Begriff Nachhaltigkeit bezieht vermehrt auch einen mentalen Anspruch mit ein. Nach dem Burnout-Boom der letzten Jahre ist Entschleunigung als hipper Lebensstil angesagt. Die Werbewirtschaft hat den Trend aufgenommen und visualisiert nachhaltige Ökosysteme mit entspannt in die Kamera lächelnden Menschen. Nachhaltige Entschleunigung lautet der Trend. Der ökologische Fussabdruck wird es danken – ausser man fliegt an den Ort der Entspannung.
Und wie sieht es mit der Abnutzung des Begriffs «Nachhaltigkeit» aus? Dazu sagt der deutsche Kulturhistoriker in einem Interview zu Zeit.de:
«Dass der Begriff in der Mitte der Gesellschaft – und als Sustainable Development in der Weltgemeinschaft – angekommen ist, finde ich erst einmal grossartig. Er ist eine Art Navigationsbegriff für die Reise in die Zukunft. ‹Sustainability is the key to human survival›, also der Schlüssel zum Überleben der Menschheit. So hat der srilankische Richter am Internationalen Gerichtshof, Christopher Weeramantry, den Rang des Begriffs beschrieben. Die Gefahr liegt eher im Etikettenschwindel. Wo alles «nachhaltig» wird, ist am Ende nichts mehr nachhaltig. Oft wird die Vokabel benutzt, um dem Weiterso ein gutes Gewissen zu machen. Aber deswegen den Begriff meiden? Wir reden ja auch von Demokratie, von Menschenrechten, obwohl selbst damit Schindluder getrieben wird.»