Gesundheit ist kein Zustand, sondern ein Prozess

Gesundheit ist kein Zustand, sondern ein Prozess

Gesundheit ist kein Zustand, sondern ein Prozess.
Simone Leitner interviewt Therese Hofer, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie. Sie spricht über den Begriff Gesundheit.

bonaLifestyle: Therese Hofer, Gesundheit ist ein komplexes Thema. Ist ein Mensch gesund, wenn er nicht krank ist?

Therese Hofer: Gesundheit ist ein komplexes Thema, sich Fragen zu stellen auf dem Gebiet der Gesundheit ist einfacher, als Antworten zu finden. Als Psychiaterin habe ich sicher auch einen speziellen Gesichtspunkt – ein Sozial- und Präventivmediziner würde Ihre Fragen wahrscheinlich anders beantworten. Meine Antworten sind persönlich durch meine Erfahrungen geprägt und ich weiss, dass vieles offen bleiben wird. Wenn ich Sie frage: «Fühlen Sie sich gesund?», würden Sie wahrscheinlich «ja» oder «nein» sagen. Wenn ich Sie dagegen frage: «Sind Sie gesund?», würden Sie vielleicht mit der Antwort zögern. Gesundheit hat einen subjektiven und einen objektiven Aspekt, was dazu führt, dass sie schwierig zu definieren ist.

Die Weltgesundheitsorganisation WHO hat eine Definition für Gesundheit. Was halten Sie davon?

Im Jahre 1946 definierte die WHO Gesundheit als «Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens und nicht nur das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen ». Diese Definition wurde seither nicht verändert. Mir scheint wichtig, dass die Definition sowohl den psychischen wie den sozialen Aspekt gleich gewichtet wie den körperlichen und dass durch den Begriff des Wohlergehens auch die subjektive Perspektive respektiert wird. Problematisch ist, dass die Gesundheit als Zustand vollkommenen Wohlergehens bezeichnet wird. Nach dieser Definition wird die Gesundheit zu einem Ideal, das niemand erreichen kann. Zudem ist Gesundheit kein Zustand, sondern ein Prozess, Gesundheit ist etwas Fliessendes, das sich rasch ändern kann, wie wir alle wissen.

Wie soll man aber Gesundheit definieren, wenn sie nicht ein Ideal bleiben soll?

Vor drei Jahren hat sich ein Expertenteam dieser Frage angenommen und im British Medical Journal einen Artikel dazu veröffentlicht (Huber M. et al., How should we define health? BMJ, 2011, 343:235-7), in welchem vorgeschlagen wurde, dass Gesundheit «die Fähigkeit zur Anpassung und zum Selbstmanagement » sei, wobei man nach Hans Stalder (Schweiz. Ärztezeitung, 2014, 95:42) noch anfügen müsste: «auf körperlicher, psychischer und sozialer Ebene». Als Psychiaterin finde ich die Formulierung «die Fähigkeit zur Anpassung» gut, während mir der Begriff «zum Selbstmanagement» problematisch erscheint.

Was heisst Selbstmanagement genau im Zusammenhang mit Gesundheit? Und wie weit kann ein Patient seinen Krankheitsprozess selber beeinflussen?

Eine erfolgreiche Anpassung ist immer auch ein aktiver Prozess und würde als solcher auch einen gewissen Grad an Selbstmanagement erfordern. Viele Menschen haben eine unglaubliche Fähigkeit zur Anpassung. Mir wird es immer wieder bewusst, wenn zum Beispiel onkologische Patienten sagen: «Ich weiss, dass ich an Krebs leide, trotzdem geht es mir psychisch gut.» Ist ein Krebskranker, der dies sagt, gesund oder krank? Er hat eine psychische Anpassung geleistet, aber kann er körperlich eine Anpassung an den vielleicht fortschreitenden körperlichen Zerfall leisten? Müsste man dann unterscheiden zwischen psychisch gesund und körperlich krank? Man könnte dann jemanden als sozial gesund, psychisch gesund und körperlich krank beschreiben, und es gäbe mehrere Varianten, um die Gesundheit, beziehungsweise die Krankheit eines Menschen zu beschreiben. Wichtig zu erwähnen scheint mir in diesem Zusammenhang, dass man sich in der Medizin schwer damit tut, sorgfältig die sozialen Daten eines Patienten zu erfragen, um so ein vollständigeres Bild eines Patienten zu erhalten.

Und wann kann sich ein Mensch der Situation nicht anpassen?

Der Anpassungsprozess kann in speziellen Situationen, zum Beispiel in Notlagen, traumatischen Erschütterungen oder psychischen Beeinträchtigungen, ins Stocken geraten, und Patienten befinden sich dann sozusagen in einem Überlebensmodus, in welchem wenig Platz ist für erfolgreiche Anpassung. So können Patienten, wenn sie zum Beispiel an Krebs erkranken und sich körperlich krank fühlen, auch seelisch einbrechen. Dadurch kann es zu Belastungen auf der sozialen Ebene kommen, zum Beispiel durch Verlust der Arbeitsstelle oder Rückzug von den Freunden. Des Menschen Körper, Seele und auch soziale Gegebenheiten sind eine Einheit, was sich im Begriff der bio-psychosozialen Medizin zeigt, einer Medizin, die sich bemüht, die Gesamtheit eines Menschen zu erfassen.

Existieren heute auch andere Interpretationen des Begriffs Gesundheit?

Ja, es gibt noch weitere Definitionen. Reinhard Ley zum Beispiel hat 2012 Gesundheit so definiert: «Gesundheit bedeutet eine zufriedenstellende Entfaltung von Selbstständigkeit und Wohlbefinden in den Aktivitäten des Lebens.» Die Beurteilung, ob jemand gesund ist, scheint bei dieser Definition nur eine subjektive Entscheidung zu sein, das würde bedeuten, dass ich zum Beispiel einen erhöhten Blutdruck haben könnte, der anfänglich oft keine Symptome macht, und ich würde dabei als gesund gelten. Jede Definition von Gesundheit hat ihre Stärken und Schwächen, Gesundheit ist als Begriff zu komplex, als dass sie in eine Definition gefasst werden könnte.

Dann ist Gesundheit ein individuelles Empfinden?

Gesundheit hat mit individuellem Empfinden zu tun. In der Regel sucht jemand erst einen Arzt auf, wenn er Beschwerden hat, die ihn beunruhigen, wenn er sich krank fühlt. Ich habe zum Beispiel heftige Schluckbeschwerden und Fieber, der Arzt stellt eine Angina fest. Seltener kommt jemand zum Arzt wegen einer Routinekontrolle bei voller Gesundheit. Aber es kommt vor, zum Beispiel wenn eine Frau in eine Vorsorgeuntersuchung geht und bei dieser Untersuchung der Verdacht auf Brustkrebs geäussert wird. Dann wird eine Frau, die sich vor der Untersuchung gesund gefühlt hat, sich nach der Untersuchung krank fühlen. Noch schwieriger ist es bei den Patienten, bei welchen die Diagnose einer psychogenen Schmerzstörung gestellt wird. Bei solchen Patienten wird der Arzt keinen pathologischen körperlichen Befund finden, der den Schmerz dieser Patienten erklären könnte. Trotzdem, diese Patienten fühlen sich krank, sie sind krank, sie erleben heftige Schmerzen, die zum Beispiel Ausdruck einer Konversion, vereinfacht gesagt, Ausdruck eines ungelösten psychischen verdrängten Konfliktes sein können. Man kann sich also krank fühlen, ohne dass ein pathologischer körperlicher Befund erhoben werden kann.

 

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Angenommen ein Patient ist krank, wann ist er wieder gesund?

Ich glaube, es gibt keine klare Grenze. Ich erlebe schwer depressive Patienten, denen es Schritt für Schritt besser geht, sie können die Arbeit wieder aufnehmen, sie haben wieder Kontakt zu Freunden. Ab wann sind sie gesund? Ich glaube, es ist eine Grauzone, kein Umschlagspunkt. Auch bei einer Infektionskrankheit: Ab wann gelte ich gesund? Wenn ich kein Fieber mehr habe, wenn keine Erreger mehr da sind, wenn die Antibiotika gestoppt werden können, oder wenn ich die Arbeit wieder aufnehme?

Gehen die Meinungen des Arbeitgebers, des Arztes, des Patienten auseinander, wer sagt in letzter Instanz, wann ein Patient gesund ist?

Wann jemand gesund ist, interessiert vor allem den Patienten, seine Angehörigen und den behandelnden Arzt. Bei dieser Frage geht es oft auch um die Beurteilung der Gesundheit aus der Sicht der Gesellschaft auf den Patienten, und die Gesellschaft interessiert sich mehr für die Arbeitsfähigkeit. Die Arbeitsfähigkeit ist ein schwieriger Punkt in der Medizin. Davon zeugen die Gutachten und Gerichtsurteile im Zusammenhang mit Anspruch auf Renten oder Wiedereingliederung. Der Arzt teilt dem Arbeitgeber nur den Grad der Arbeitsunfähigkeit mit, macht aber keine Aussagen über den Gesundheitszustand des Patienten. Die Meinungen klaffen oft auseinander. Es gibt sehr viele Aspekte, die die Arbeitsfähigkeit eines Menschen beeinflussen. Es ist leicht zu verstehen, dass, wenn das Klima am Arbeitsplatz schlecht ist, ein Patient eher versuchen wird, seinen Einstieg in die Arbeitswelt zu verschieben, hingegen wenn die Arbeit für den Patienten eine Bereicherung ist, wird er möglicherweise trotz Krankheit versuchen im Arbeitsprozess zu bleiben. Ein Arbeitgeber, der vielleicht nur zwei Arbeitnehmer hat, wird eher Druck machen als ein Unternehmen mit vielen Arbeitnehmern. In letzter Instanz wird die Arbeitsfähigkeit oft durch Vertrauensärzte einer Versicherung oder durch ärztliche Gutachter festgelegt.

Wie definieren kranke Menschen Gesundheit?

Sie definieren sie unterschiedlich. Meist beklagen sie das, was sie vermissen, im Gegensatz zu früher, als sie sich gesund fühlten Ihr Hauptwunsch ist es meist, einfach wieder einen normalen Alltag zu haben. Gesundheit ist schon ein Gut, das, wenn man es besitzt, einem oft gar nicht bewusst ist, das aber, wenn es fehlt, schmerzlich vermisst wird.

 Machen und Alltagsprobleme und Ängste krank?

Wie schon erwähnt, sind die Psyche, der Körper und die sozialen Aspekte eines Menschen eine Einheit. Wenn etwas gestört ist, wird der ganze Mensch beeinträchtigt sein. Ein Arbeitnehmer, der dauernd Angst haben muss wegen seines Arbeitsplatzes, wird auf diese Angst körperlich reagieren. Er wird vermehrt angespannt sein. Er wird möglicherweise mehr Stresshormone ausschütten, die seinen Blutdruck erhöhen, seinen Puls beschleunigen und seinen Schlaf beeinträchtigen werden. Dadurch wird er anfälliger für andere Belastungen, was möglicherweise seine Ängste noch mehr erhöhen wird. So entsteht eine Spirale, die zum Zusammenbruch führen kann. Grosse Belastungen physischer, psychischer oder sozialer Art während längerer Zeit beeinträchtigen Menschen, sie können dadurch krank werden. Ausser es gelingt ihnen, die Belastungen zu verändern oder, wenn dies nicht möglich ist, sich bis zu einem gewissen Grad daran anzupassen.

Prävention ist in aller Munde. Gehört Vorbeugen heute zum Zeitgeist?

Unter Prävention versteht man alle Massnahmen, die zu einer Vermeidung des Auftretens von Krankheiten dienen. Um 1900 erkannte man den Zusammenhang zwischen unzureichenden hygienischen Lebensbedingungen und Erkrankungen. Der Begriff der Gesundheitsförderung ist viel jünger. Er wurde 1986 bei einer WHO-Konferenz in Ottawa etabliert. Das Ziel beider Interventionsformen ist es, einen individuellen und kollektiven Gesundheitsgewinn zu fördern, einerseits durch das Zurückdrängen von Risiken für Krankheiten (zum Beispiel rechtzeitiges Erkennen von Bluthochdruck), andererseits durch die Förderung von gesundheitlichen Ressourcen (zum Beispiel Zugang zu gesundheitsrelevanten Leistungen wie Bildung und Sozialeinrichtungen). Das Bewusstsein für Prävention und Gesundheitsförderung hat sicher zugenommen, Prävention und Gesundheitsförderung sind aber schwierig umzusetzen.

Wann ist Prävention Wunschdenken?

Wenn ich in der Psychiatrie die leidvolle Geschichte eines chronisch depressiven Menschen höre, der in seiner Kindheit vernachlässigt und abgewertet wurde, geht mir oft durch den Kopf, wie es für diesen Patienten geworden wäre, wenn jemand für ihn eingestanden wäre, wenn jemand sein Leid erkannt und ihm geholfen hätte im Sinne einer Prävention. Dann wäre sein Leben vielleicht glücklicher und einfacher geworden und er hätte weniger Kosten verursacht, er wäre nicht längere Zeit arbeitsunfähig geworden und hätte vermutlich keine medizinische Betreuung gebraucht. Aber wer hätte ihm helfen können, wer hätte so in eine Familie eindringen können? Wer hätte präventiv oder gesundheitsfördernd wirken können? Ich glaube, es ist wichtig, dass wir solche Zusammenhänge erkennen.

Also hat sich der Begriff Gesundheit der Gesellschaftsentwicklung angepasst?

Der Begriff der Gesundheit hat sich mit dem Wandel der sozialen und wirtschaftlichen Situation des Menschen verändert. Unsere Urgrosseltern hatten vermutlich weniger anspruchsvolle Kriterien für ihre Empfindung von Gesundheit als zum Beispiel wir in unserer hoch entwickelten städtischen Umgebung. Möglicherweise fühlten sie sich gesund, wenn sie arbeiten konnten.